| 13. August 2021

Frau Prof. Dr. Welpe, inspirieren Sie uns!

PRIMEPULSE MAGAZINE Exklusivinterview: Management in Zeiten von aktuellen Krisen und Herausforderungen wie Corona und Digitalisierung.

PRIMEPULSE MAGAZINE Exklusivinterview: Management in Zeiten von aktuellen Krisen und Herausforderungen wie Corona und Digitalisierung

Redaktion:
Frau Prof. Dr. Welpe, hat die Corona-Pandemie die Rolle der Führungskräfte verändert?

Prof. Dr. Isabell M. Welpe:
Die Corona-Pandemie hat Dinge, die sowieso schon im Gange waren, vor allem beschleunigt. Die Modernisierung des Arbeitens und der Zusammenarbeit im Kontext der Digitalisierung ist jetzt in wenigen Wochen angestoßen und teilweise auch vollzogen worden, was in der Wirtschaft unter anderen Umständen wahrscheinlich noch Jahre gedauert hätte.  Wir sehen schon seit längerer Zeit, dass die Organisation von Arbeit und Zusammenarbeit neben Technologieführerschaft oder exzellenten Produkten zu den wichtigsten Innovationsfeldern von Unternehmen gehört. Es geht darum, sowohl die Wertschöpfungsketten als auch die Arbeit innerhalb der Organisation neu zu organisieren. Das ist unter dem Einfluss der Corona-Pandemie jetzt massiv und schnell erfolgt. Wir sehen außerdem, dass sich Organisationen weg bewegen von einer reinen Top-Down-Steuerung hin zu einer bereichsübergreifenden Steuerung und sogar zu einer Steuerung über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinweg. Konkret geht es um das Denken im Netzwerken und Ökosystemen. All das stellt an Führungskräfte vor allem die Anforderung, lateral zu führen, also Menschen zu beeinflussen, über die sie keine direkte Kontrolle oder Weisungsbefugnis haben. Das bedeutet, Führungskräfte müssen mehr überzeugen statt überreden oder anweisen. Genauso gibt es auch neue Anforderungen an die Mitarbeiter und ihre Fähigkeit zum Selbstmanagement. Nur Führungskräfte und Mitarbeiter zusammen können erfolgreich die Zukunft der Arbeit und Zusammenarbeit miteinander gestalten.

Redaktion:
Welche Veränderungen sehen Sie für die Mitarbeiter in der digitalen Arbeitswelt?  

Prof. Dr. Isabell M. Welpe:
Vereinfacht gesagt brauchen wir nicht nur Leadership 4.0, sondern auch Followership 4.0. Denn es wird nicht gelingen nur zu sagen, die Führungskräfte machen jetzt einige Dinge anders und dann passt alles wieder. Das wäre zu heroisch gedacht. Es muss schon ein Miteinander sein. Natürlich haben die Führungskräfte teils größere Hebel, weil sie zentrale Entscheidungen setzen, die Kultur beeinflussen und einen Handlungsrahmen vorgeben können. Aber die Modernisierung der Arbeitswelt erfordert genauso eine Weiterentwicklung bei den Mitarbeitern hin zu mehr Verantwortung und Selbstorganisation.

Redaktion:
Davon profitiert am Ende auch das gesamte Unternehmen…

Prof. Dr. Isabell M. Welpe:
Absolut. Es gibt heute viele Beispiele an denen wir sehen, dass die Unternehmen auf jeden Fall erfolgreicher sind, bei denen weniger Fremdführung notwendig sind und die Führungsfunktion mehr im Unternehmen aufgeht. Das heißt, Mitarbeiter in solchen Unternehmen sind bereit und zudem in der Lage, Verantwortung und Selbstorganisation zu übernehmen und sich selbst zu motivieren. Sie benötigen weniger Kontrolle durch Führungskräfte, weisen zudem eine hohe Gewissenhaftigkeit auf und denken unternehmerisch mit. Dies alles ist bei Remote Work sogar noch entscheidender.

Redaktion:
Im „Schneller, Höher, Weiter“ kommen individuelle Arbeitsmosaike oder Lebensentwürfe – wie etwa die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – oft zu kurz. Lassen sich durch die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht sogar beide „Ansätze“ lohnenswert vereinbaren?

Prof. Dr. Isabell M. Welpe:
Ja. Der Trend, den wir schon lange sehen zeigt nämlich, dass diejenigen Unternehmen erfolgreich sind, die individuell auf ihre Nutzer und Kunden eingehen. Dasselbe gilt auch für den Umgang mit ihren Mitarbeitenden. Die Unternehmen, die in der Lage sind, individuell auf ihre Mitarbeiter einzugehen, werden oder sind erfolgreicher. Ich wage die Prognose: Corona hat gezeigt, Arbeit und Zusammenarbeit geht auf viele Arten und „one size does never fit all“. Die Chance ist, dass man sich das bewahrt und Mitarbeitern ermöglicht, so zu arbeiten, wie es für sie gut ist, um produktiv zu sein. Das kann die Arbeitszeiten, den Arbeitsort oder die Art und Weise betreffen, wie sich Menschen im Projekt zusammenfinden.  Mehr individuelles Arbeiten zuzulassen ist somit auch eine Chance für Unternehmen.

Redaktion:
Wo sollten Forschung & Lehre und die Wirtschaft jetzt ansetzen, um das volle Potenzial zu heben?

Prof. Dr. Isabell M. Welpe:
Ich sehe hier drei Ansatzpunkte. Der erste wäre: Deutschland und Europa insgesamt haben zu wenig disruptive beziehungsweise überhaupt zu wenig Innovationen. Bei uns herrscht leider eine Kultur, die Innovation und Gründung aktuell auch nicht befördert. Der Traumjob deutscher Studenten ist nach wie vor über alle Studiengänge hinweg, Beamter zu werden.

Dazu eine Anekdote: Ich habe mich mit Kai-Fu Lee unterhalten, CEO von Sinovation Ventures aus Asien und erfolgreicher Autor zu Künstlicher Intelligenz. Als ich ihn gefragt habe, was ihn an Europa interessiert, hat er gesagt: „Nichts! 27 verschiedene Gesetze, die Steuern sind doppelt so hoch wie überall anders, ihr seid aber nicht doppelt so gut.“ Und als er schon gehen wollte, hat er sich umgedreht und zu mir gesagt: „Könnten Sie mir vielleicht die Abstracts der Abschlussarbeiten der Studenten in den Naturwissenschaften und in den Ingenieurwissenschaften der TUM schicken? Ihr seid wahnsinnig erfinderisch und kreativ.“ Ich finde, er hat einen exzellenten Punkt angesprochen. Nämlich, dass das Humankapital, die Ausbildung an europäischen und deutschen Universitäten hervorragend ist und dass wir noch nicht genug tun, dieses Wissen an Unternehmen zu bringen. Die Verbindung zwischen Unternehmen und forschenden Institutionen in Deutschland und Europa ist viel zu gering. Unternehmen müssen einen Weg finden, sich dieses Wissen nutzbar zu machen, mit den Forschenden zusammenzuarbeiten und aus diesen Erfindungen und Erkenntnissen auch Innovationen zu erzeugen. Die Nähe zwischen Staat, Wissenschaft und Wirtschaft ist für Wissenstransfer sehr wichtig und ein wesentliches Erfolgskriterium. Die USA machen das perfekt. Sie ziehen Talent an und sind Nettoimporteur von Talenten weltweit. Europa ist Nettoexporteur, da müssen wir besser werden und die Chancen nutzen.  

Der zweite Punkt ist: In Deutschland ist vieles Top Down geregelt. Das ist auch gut in allen Bereichen, in denen es um Sicherheit und Qualität geht. Wo hingehen Neues entstehen soll ist es wichtig, Menschen im und außerhalb des eigenen Unternehmens zu erlauben, zusammenzukommen und Dinge zu erfinden. Also Innovation entsteht da, wo Bottom Up  zugelassen wird und wo man nicht jedes Mal um Erlaubnis fragen muss, wenn man etwas Neues erprobt. Dafür braucht es Raum, und zwar im doppelten Wortsinn. Es braucht zum einen den physischen Raum, wo sich Menschen treffen können, um an Problemlösungen zu arbeiten. Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass Unternehmen manche Räume öffnen, zum Beispiel für Studierende oder für Designer, und mit ihnen gemeinsam an Problemstellungen arbeiten. Viele Unternehmen sind in der Regel „closed shops“. Zum anderen braucht es den Raum im Kopf, also die Kultur, die es zulässt, Dinge kreativ auszuprobieren. Der dritte Punkt ist das Thema Kreativität: Dort, wo starre Strukturen und zwanghafte Ordnung herrschen, kann Kreativität nur schwer hervorgehen. Wir brauchen eine Kultur, in der man sagt: Mach etwas Ungewöhnliches, mach etwas Neues. Und eine Kultur, die die kreative Klasse anzieht. Schlussendlich entsteht ohne Kreativität keine Innovation.

Redaktion:
Vielen herzlichen Dank, Frau Prof. Dr. Welpe für das inspirierende Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Isabell M. Welpe ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strategie und Organisation an der Technischen Universität München und Leiterin des Bayerischen Staatinstituts für Hochschulforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Strategie, Führung und Innovation sowie der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Aktuelle Projekte von Prof. Dr. Isabell M. Welpe beschäftigen sich vor allem mit dem digitalen Wandel von Unternehmen und der Arbeitswelt und der Zukunft von Führung, Arbeits- und Organisationskonzepten unter diesem Einfluss. So veröffentlichte sie Studien und Arbeiten aus dem Projekt „The Future of Work- and Life Design“, „Social Media as Information Markets“ sowie der Veränderung der Geschäftsmodelle in (Medien)organisationen als Folge der Digitalisierung. Prof. Welpe ist u.a. Mitglied des Board of Directors des Center for Digital Technology & Management (CDTM) und Mitglied im „Münchner Kreis“ sowie Angehörige weiterer Aufsichts- und Beiräte. Sie ist zudem wiederholter Speaker auf der Digital Life Design (DLD) Konferenz und durch die Zeitschrift Capital als Top 40 unter 40 der „digitalen Elite“ gelistet.

Quelle Titelbild: Abhilash Sahoo on Pexels

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